Der jüngste Höhepunkt der monatelangen Proteste in Serbien gegen die Herrschaft des Autokraten Aleksandar Vučić am 28. Juni habe auch im Ausland für Aufsehen gesorgt, schreibt die deutsche Zeitung. „Rund 140.000 Menschen forderten in Belgrad Neuwahlen. Diese Zahl erreichte zwar nicht die der Kundgebung vom 15. März, als es der Studentenbewegung gelang, mehr als 300.000 Bürger aus dem ganzen Land zu mobilisieren. Sie zeigte jedoch, dass die Proteste gegen das Staatsoberhaupt auch mehr als sechs Monate nach ihrem Beginn im November 2024 nicht an Kraft verloren haben.“
Die Versammlung vom 28. Juni deute jedoch auch auf eine besorgniserregende Entwicklung für den gesamten Balkan hin, so der Autor des Artikels, der Journalist Mihael Martens. „Dieser Trend ist schon länger erkennbar, wird im Ausland aber kaum wahrgenommen: In der Studentenbewegung, die nach wie vor die treibende Kraft der Proteste ist, hat sich ein großserbischer Nationalismus durchgesetzt, der an die frühen Jahre der Herrschaft des serbischen Kriegsherrn Slobodan Milošević Anfang der XNUMXer Jahre erinnert.“
Dies zeige sich laut dem Autor bereits an der von den Studierenden für die Kundgebung ausgewählten Rednerliste: „Nationalisten und Kriegsverbrechensrelativierer wetteiferten in der Verbreitung großserbischer Parolen. Der von den Studierenden ausgewählte Redner stand ihnen in nichts nach. Einzig der Rektor der Belgrader Universität sprach in gemäßigtem Ton, blieb aber eine Ausnahme. Die anderen Redner erweckten den Eindruck, dass es ihnen nicht um das ursprüngliche Ziel der Protestbewegung – nämlich die Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Serbien – ginge, sondern vielmehr darum, neue Kriege gegen den Kosovo oder Bosnien zu beginnen.“
Codewörter der großserbischen Ideologie
Die Frankfurter Allgemeine Zeitung schreibt weiter, die Kundgebung sei von einem „hysterisch heulenden und schreienden“ Studenten eröffnet worden, der bereits mehrfach als Sprecher der Bewegung aufgetreten sei. In einer quasi-biblischen Rede sprach er viel über Gott, die Serben und die Schlacht im Amselfeld gegen die Osmanen am 28. Juni 1389. Dieses Datum, in Serbien als ‚Veitsfest‘, ‚Vidovdan‘, gefeiert, ist im serbischen Nationalismus mythisch aufgeladen und wird als universelle Waffe eingesetzt. Dass die Studierenden gerade diesen Tag für ihre Versammlung wählten, deutete auf etwas Schlimmes hin. Und diese Vorahnungen bewahrheiteten sich. Der 28. Juni ist in ‚unserer geliebten Heimat‘ der Tag, ‚an dem Gebet und Blut eins werden‘, rief der Studierendenvertreter ins Mikrofon. Nach ausgiebiger Rhetorik über ‚Blut und Boden‘ und ruhmreiche Vorfahren, die ihr Leben für die serbische Heimat gaben, las der Student einen Text von Nikolaj Velimirović, einem nationalistischen serbisch-orthodoxen Priester und Hitler-Verehrer, der 1956 starb, in dem erneut viel von Knochen, Vorfahren und Heimat die Rede war.“
Wer geglaubt habe, die Eröffnungsrede sei eine Ausnahme oder eine Art pragmatisches Zugeständnis der Studierenden an den starken nationalistischen Teil der serbischen Gesellschaft gewesen, habe sich geirrt, urteilt der deutsche Journalist. „Denn so ging es weiter. Ein Literaturprofessor, der kürzlich die (buchstäblich mittelmäßige) Lyrik des zu lebenslanger Haft verurteilten bosnisch-serbischen Kriegsverbrechers Radovan Karadžić gelobt hatte, rief in einer pseudohistorischen Rede das Publikum dazu auf, die Serben im Kosovo, in der Republika Srpska in Bosnien, in Montenegro und Nordmazedonien nicht zu vergessen. Es gehe, wie er sagte, um ‚die Freiheit des serbischen Volkes außerhalb Serbiens‘ und ‚den Kampf für den serbischen Integralismus‘. Dies seien Codewörter für die großserbische Ideologie, in deren Namen serbische Täter in den 1990er Jahren Verbrechen wie den Völkermord in Srebrenica begingen.“
Dass die Rede des Professors nicht nur gehalten, sondern auch vom Publikum begeistert aufgenommen wurde, könnte bei den Online-Zuschauern aus Vukovar, Sarajevo oder Pristina unangenehme Erinnerungen geweckt haben, schreibt die Frankfurter Allgemeine Zeitung. „Denn wenn früher die großserbische Ideologie von den Knochen der Vorfahren sprach und Serbien überall dort sei, wo Serben begraben würden, endete dies meist damit, dass die Knochen nicht-serbischer Opfer in Massengräbern auf dem Balkan landeten.“
Vučić von rechts überholen
„Natürlich denken nicht alle Studierenden so wie die Redner beim jüngsten Protest. Vielleicht sind es sogar mehrheitlich Studierende, die den zunehmend großserbisch-nationalistischen Ton der Protestbewegung gegen Vučićs undemokratische Herrschaft abstoßend finden. Doch wenn sie sich nicht von nationalistischen Ausbrüchen wie denen am Vidovdan distanzieren, kommt nur die andere, dunkle Seite Serbiens zu Wort“, bilanziert der Autor und kommt zu dem Schluss:
„Zweifellos: Käme es zu einer Distanzierung, würde die Protestbewegung in mindestens zwei Teile zerfallen. Sie wäre dann zahlenmäßig geschwächt. Doch ihre Forderung nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit würde gestärkt. Derzeit versuchen Studierende, den serbischen Nationalismus nicht Vučić zu überlassen und ihn von rechts zu überholen. Doch auch die Überholspur des falschen Weges bleibt bestehen – des falschen Weges. Vučićs Regierung wird sich von nationalistischen Zirkussen und großserbischen Plattitüden nicht erschüttern lassen. In dieser Disziplin kann ihm niemand das Wasser reichen. Dass es dennoch Versuche gibt, zeigt auch, dass Vučić nur der sichtbare Ausdruck eines nationalistischen Wahns ist, dessen Ursachen tiefer liegen.“
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